Bericht der Theater AG (Lea-Marie Busch):
„Zwischen Wahn und Wahnsinn“
Der Landesbühne Nord gelang es erneut, eine Theaterinszenierung zu kreieren, die alle bereits zuvor erschienenen Inszenierungen der Spielzeit 2018/2019 in den Hintergrund rückte. Mit „Sterben helfen“ wird das Publikum in eine unbekannte Welt geführt, die voller Widersprüche, Tabuisierung und Konfliktunfähigkeit zu sein scheint.
Die Presse betitelt dies mit: „Wer zur Last fällt, bringt sich bitte um“ und es gibt keine passendere Bezeichnung, die den Kern des Stückes trifft. Das Publikum lernt eine Welt kennen, in der alle zum 18. Geburtstag ihren Giftinhalator erhalten. Ab diesen Zeitpunkt spielen alle Menschen, Jung und Alt, ein Spiel, das unabhängig von Gewinnen oder Verlieren, mit dem eigenem Tod endet. Jeder hält die Macht in seinen Händen, sein bisheriges Leben durch einmaliges tiefes Luftholen endgültig zu beenden. Eine schlechte Diagnose, wie Krebs, wird als Todesurteil erachtet und findet durch ein fröhliches Fest mit dem Höhepunkt des Suizidierens einen krönenden Abschluss.
In dieser kranken Welt lebt die schwangere Lucy mit ihrer Familie und arbeitet als erfolgreiche Businessfrau – bis zu einer einfachen Routineuntersuchung. Die Diagnose ist vernichtend: Krebs. Lucys kleine heile Welt bricht zusammen, nichtsdestotrotz wird von ihr eine Entscheidung erwartet. Eine Entscheidung, die die Kuriosität des Lebens darstellt: Leben oder Sterben, Suizidieren oder Kämpfen. Diese Entscheidung wird durch die Gesellschaft heruntergespielt – als hätte man das Spiel namens Leben bereits verloren. Man hat das gesellschaftliche Ziel verfehlt, produktiv zu sein, ein Workaholic zu sein, und deswegen hat dieses fehlgeleitete Individuum zu sterben.
Die Protagonistin entscheidet sich gegen die übliche Norm, sich einfach so das Leben zu nehmen. Die Hoffnung auf das Überleben treibt Lucy an, die unzähligen Chemotherapien hinter sich zu bringen, um weitere Rückschläge einstecken zu müssen. In ihrer eigenen Familie werden lautstarke Zweifel geäußert, warum sie weiterleben möchte, wenn ihr jetziges Leben sowieso nicht mehr lebenswert sei, denn Lucy fällt ihrer ganzen Familie zur Last. Und „wer zur Last fällt, bringt sich bitte um…“
Diese Welt scheint nicht verstanden zu haben, dass es einen Unterschied zwischen Leben-wollen und Leben-müssen gibt und der Sinn des Lebens Leben ist. Nichtsdestotrotz wird der Tod verharmlost und sogar euphorisiert. In dieser Welt, die zwischen Wahn und Wahnsinn wandelt, begehrt Lucy gegen die Gesellschaft, gegen die Norm auf, indem sie kämpft, um zu (über)leben.
Die Reaktion auf den Selbstmord einer 15-Jährigen, schockiert das ganze Publikum, denn Selbstmord sei schließlich egoistisch. Der Freitod des jungen Mädchens wird totgeschwiegen, indem sich die Eltern schließlich mithilfe ihres Giftinhalators selbst suizidieren. Doch die Wahrheit darüber, dass das Mädchen an Depressionen litt, wird durch einen Nebensatz erwähnt, als wäre es keine nennenswerte Tatsache.
Der Tod wird im Verlauf des Stückes verharmlost, als wäre er nur die Niederlage nach einem langen langweiligen Spiel. Der Druck, sich selbst zu suizidieren, wird jeden Tag eine schwerere Last auf Lucys geschwächten Schultern – bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lucy ihren selbst gewählten Freitod – ohne den Giftinhalator – stirbt.
Das Leben besteht aus unerwarteten Wendungen, die das Abenteuer Leben lebenswert machen. Kein Mensch wünscht sich, im Leben eine tödliche Diagnose zu erhalten, doch die Angst davor, dass das Leben endlich ist, gibt uns den nötigen Respekt, um unsere Zeit zu nutzen. Die Gesellschaft scheint von Lucy zu erwarten, sich selbst zu suizidieren, doch der Widerspruch befindet sich in der an Wahn erkrankten Gesellschaft selbst, denn schließlich sei Suizid egoistisch.
Das Publikum erlebt den aussichtslosen (Überlebens-)Kampf mit und kann nicht anders, als diesen am eigenen Leib zu spüren. Verschiedene Momente, wie die pure Verzweiflung der Angehörigen, die denken, dass sie Lucy umbrachten, weil sie sich nicht genügend geholfen haben, bringen die Komik des Lebens hervor. Mit „Sterben helfen“ wird eine immerwährende Aktualität auf die Bühne gebracht, die fortwährend tabuisiert wird, denn um das Sterben kann man sich Gedanken machen, wenn man tot ist, richtig? Die Wahrheit ist, dass Sterben beschissen sein wird und dies kein gesunder Mensch freiwillig erleben will. Die an Wahn erkrankte Gesellschaft des genialen Autors Konstantin Küspert zeigt uns, dass der Tod zum Leben dazugehört und nicht vermieden werden kann und die Kuriosität des Lebens aus dem Leben und nicht dem Tod besteht.