Oder: Was für ein abgefuckter Scheiß!
„Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier.“
In dem Drama „Die Schutzbefohlenen“ beschäftigt sich die Nobelpreisträgerin und Autorin Elfriede Jelinek mit den heutigen Tragödien der Asylsuchenden an den EU-Außengrenzen und den fremdenfeindlichen, ängstlichen Besitzansprüchen einzelner Bürger, die die Menschenrechte mit Füßen treten.
Mit großer Direktheit und Wut kämpft Elfriede Jelinek nicht nur gegen Missstände des Asylrechts, sondern auch gegen die Verzweiflung über unsere eigene Passivität angesichts der Ohnmacht der Schutzbedürftigen. Regisseurin und Oberspielleiterin Eva Lange inszenierte das Drama für die Landesbühne Nord, wo es noch bis Januar 2017 zu sehen sein wird.
Das postdramatische Stück basiert auf einem Ereignis, das durch alle Medien lief. Im Januar 2013 besetzten 60 Asylsuchende eine Wiener Kirche, um auf ihre Not aufmerksam zu machen. Den meisten drohte die Abschiebung in ihr Heimatland, wo ihnen der Tod drohte. Ihr einziger Ausweg schien, in einer Kirche Schutz vor der drohenden Abschiebung zu suchen.
Zwei elementare Dinge sind wichtig für den Verlauf der Inszenierung: das Bühnenbild und die Gestaltung der Kostüme. Im hinteren Bereich der Bühne wurde alles durch große, schwarze Wände abgedunkelt, um den Fokus auf das herausgeschnittene Kreuz im Hintergrund zu legen. Das Publikum starrt auf das Kreuz, welches mit dem Hintergrund eines Kirchenaltars hinterlegt ist. Vor dem Kreuz befindet sich ein schmaler Steg, der wie ein T-Steg aufgebaut ist. Nur dieser T-Steg wird von den Darstellern als Bühne genutzt. Die übrige Bühne ist mit einer goldenen Folie bedeckt, ähnlich einer Aluminiumdecke, die im Sanitätskasten im Auto liegt. Die Bühnengestaltung vermittelt dem Publikum das Gefühl, in einer christlichen Kirche zu sitzen, ohne wirklich dort zu sein.
Nicht nur das Bühnenbild wirkt auf das Publikum angsteinflößend, sondern auch die Kostüme, die die darstellenden Asylanten und die anderen Schauspieler tragen. Alle Asylanten tragen eine ähnliche Farbe, die der hellen europäischen Hautfarbe ähnelt. Nur einzelne Charaktere unterscheiden sich durch ihre Kleidungsstile. Dieser Effekt wird bewusst genutzt, um das Publikum zu verwirren und die Figuren als eine Art der Gemeinschaft auftreten zu lassen. Bei einer anderen Gruppe, welche die deutschen Behörden darstellt, wird dieser Effekt ähnlich genutzt, jedoch soll die Kleidung der deutschen Behördenvertreter Angst und Unsicherheit verbreiten.
Das Theaterstück überzeugt durch die immer wieder eingespielte Musik über Freiheit, welche die Sprecheinlagen der Darsteller dramatisiert, wie etwa das Lied „Über den Wolken“ von Reinhard Mey oder „Die Gedanken sind frei“. Auf diese Weise wird das Publikum immer wieder zum Nachdenken über die Menschenwürde der auftretenden Gruppen angeregt.
Die Inszenierung beginnt mit einem Standbild der auftretenden Asylanten, die auf dem T-Steg verteilt herumliegen. Im Verlauf des Stückes wird das Publikum mit immer wieder auftauchenden Sprecheinlagen dieser Gruppe schockiert, wie zum Beispiel:
„Man hat uns Videos geschickt, meiner Familie, als ich sie noch hatte, inzwischen alle tot, alle tot, kein einziger noch da, ich bin der letzte, mein alter Horizont nicht Gegenstand mehr, dem steht nichts entgegen, sie sind ja alle weg, alle tot, nur ich nicht, ich bin jetzt da, und was machen Sie mit mir? Ich bin da, was machen Sie jetzt mit mir? “.
Den Asylanten ist durchgehend bewusst, dass sie keiner verstehen wird, da sie eine andere Sprache sprechen und das Publikum sie gar nicht verstehen, sondern nur seine Kirche wiederhaben will. Nur einmal gelingt es ihnen, die vierte Wand zu durchbrechen, jedoch sprechen sie Französisch, sodass die Zuschauer sie nicht vollständig verstehen können.
Das Ensemble überzeugt durch die schauspielerische Leistung, die in beeindruckenden Dialogen und Monologen immer wieder unter Beweis gestellt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Szene, als die Menschenwürde in Form eines Menschen auf die Bühne tritt und die Gruppe der Asylanten das erste Mal seit ihrer Flucht aus ihrem Heimatland Hoffnung schöpfen. Die Gruppe reagiert aufbrausend und unkontrolliert gegenüber der Menschenwürde, diese ist jedoch schwer verletzt und versucht sich zu retten. Dies gelingt ihr allerdings nicht, denn sie wird von der Gruppe umzingelt und umarmt. In diesem Moment scheint es, als würde alles wieder gut werden, als könnten die Asylanten bleiben, jedoch endet die Szene mit dem Tod der Menschenwürde, die an ihrem eigenen Blut erstickt, während die Gruppe auf den Tod nicht trauernd zu reagieren, sondern die Situation stattdessen zu verharmlosen scheint.
Über die gesamte Zeit der Vorstellung hinweg war das Publikum fasziniert von der Umsetzung des Stückes. Dies liegt nicht nur an den Darstellern, dem Bühnenbild und den Kostümen, sondern auch an der Geschichte, welche das Publikum durch die offene Direktheit und die Wut der Autorin immer wieder aus dem komatösen Zustand herausholt und schmerzlich verdeutlicht, dass das hier keine Fiktion, sondern eine auf einem realen Erlebnis basierende Geschichte ist. Der Spannungsbogen zieht sich durch das ganze Stück, jedoch wird die Stimmung des Publikums angesichts der Aussichtslosigkeit immer verzweifelter, da es sich mit den Hauptfiguren, der Gruppe der Asylanten, identifizieren kann und mit ihnen leidet, obwohl es nicht das gleiche Schicksal teilt. Das Drama hat ein unerwartetes Ende, eine Art Appell an das Publikum, Menschen zu helfen, die Hilfe benötigen. Die Inszenierung endet mit dem Lied „This bitter earth“ von Dinah Washington und verdeutlicht damit noch einmal die Botschaft des Stückes.
Ich bin Pazifistin und Christin, das wollte ich am Anfang schon erwähnt haben. Mir sind Menschen alle gleich wichtig, egal woher sie kommen und was sie durchgemacht haben. Jeder hat eine Berechtigung zu leben, wie er will und niemand hat das Recht, die Menschenwürde anderer zu beschneiden, oder? Dieses Stück behandelt Themen wie das Christentum als Religion der breiten Masse, das Selbstbestimmungsrecht aller Menschen und Ethik, beziehungsweise Moralvorstellungen, die jeder Mensch haben sollte. Kurz gesagt: Es geht um Fragen, die jeden Menschen ab einem gewissen Alter beschäftigen sollten. Ich habe einige Personen aus dem Publikum gefragt, wie ihnen das Stück gefallen hat und alle waren der Meinung, dass sie dafür sensibilisiert wurden, wie es Menschen ergeht, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und dass sie zum Nachdenken angeregt wurden. Mir ging es genauso, denn es rührte mich sehr, wie die Darsteller eine Geschichte vermitteln, die nicht ihrer eigenen Vergangenheit entspricht. Die Inszenierung schafft Momente, in denen man als Zuschauer nur aufstehen und auf die Bühne eilen will: Die Asylanten in den Arm nehmen, ihnen sagen, dass man sie nicht hasst und dass man helfen wird. Zugleich erlebt das Publikum schockierende Szene, in denen man eine Hilflosigkeit spürt, die eigentlich keiner erleben will.
Ob ich das Stück weiterempfehlen würde? Es gibt Stücke, die jeder gesehen haben sollte, der sich mit aktuellen Fragen der Menschlichkeit beschäftigt und dies trifft definitiv auf dieses Stück zu. Die Geschichte regt zum Nachdenken über das eigene Leben an; darüber, ob man wirklich so offen und tolerant ist, wie man von sich selbst zu denken wagt. „Die Schutzbefohlenen“ ist ein ungewöhnliches Theaterstück, welches jedoch von der Mehrheit verstanden wird, auch ohne über umfangreiche Kenntnisse über das Theater und seine stilistischen Mittel zu verfügen. Dennoch sollte man eine gewisse Faszination und Interesse gegenüber dem Theater mitbringen.
Diese Inszenierung zu sehen, ist daher ein absolutes Muss für Menschen, die eine Leidenschaft für das Theater haben. Ihr solltet möglichst alleine in das Stück gehen, um die volle Aufmerksamkeit auf die Geschichte zu legen, denn nur so kommt die Botschaft hinter „Die Schutzbefohlenen“ erst an.
„But while a voice within me cries
I'm sure someone may answer my call“
„This bitter earth“, Dinah Washington
Von Lea-Marie Busch, 11. Jahrgang